Was ist ein Rebound-Effekt und wie kann man diesen verhindern?
Von sogenannten Rebound-Effekten spricht man, wenn im Fall eines komplexen Systems trotz intensivster Planung und qualifizierter, erfolgreicher Entwicklung im Betrieb des Systems dann das Gegenteil von dem erreicht wird, was man mit dem System eigentlich bewirken wollte. Wenn sogar dezidierter Schaden angerichtet wird, spricht man von Backfire-Effekten.
Zur Illustration hier einige Beispiele für Rebound-Effekte:
- Nach der Verbesserung einer Ampel-Schaltung und Verkehrsregelung tritt nach einer kurzen Verbesserungsphase danach mehr Stau auf als vorher. In diesem Fall bemerken die Verkehrsteilnehmer, dass der gewohnte Stau aufgrund der Verbesserungsmaßnahmen nicht mehr stattfindet. In Folge fahren dann aber wieder mehr Verkehrsteilnehmer die Strecke, welche sich früher Alternativ-Routen oder andere Verkehrsmittel gesucht hatten, sodass letztendlich trotz verbesserter Verkehrsregelung mehr Stau entsteht. Der verbesserte Durchfluss induziert dabei eine deutliche Zunahme des Zufluss, welche die Durchflussverbesserung überkompensiert.
- Ein neues Fahrzeug-Sicherheitssystem verleitet zur Überkompensation, indem Fahrer sich im (unter Umständen falsch verstandenem) Bewusstsein des vorhandenen Sicherheitssystems und dem Verlassen auf dieses Sicherheitssystem über ihre eigenen fahrdynamischen Fähigkeiten hinaus bewegen und so neue Unfälle verursachen, welche ohne dem System aufgrund defensiverer Fahrweise nicht vorgekommen wären.
- Im Wissen, dass automatisierte Fahrzeuge jedenfalls vor ihnen bremsen, werden Fußgänger wieder unvorsichtiger beim Überqueren von Straßen und verursachen damit neue Unfälle, welche auch von bestmöglichen automatisierten Fahrzeugen nicht unbedingt verhindert werden können.
- Automatisierte Fahrzeuge bringen ihre Passagiere derart komfortabel und (individuell gesehen) effizient von A nach B, dass niemand mehr die öffentlichen Verkehrsmittel benutzt, welche bei großem und homogenen Passagieraufkommen die effektiveren Verkehrsmittel wären.
- Bei der Einführung neuer, alternativer Antriebe wird nur der Betrieb des Fahrzeugs unter bestimmten Betriebsbedingungen betrachtet. Aufgrund aufwendigerer Herstellungs- und Entsorgungsprozesse und/oder in häufiger auftretenden ungünstigen Betriebszuständen wird die Bilanz über den gesamten Lebenszyklus "von der Wiege bis zur Bahre" allerdings schlechter und im Endeffekt wird gesamtheitlich sogar mehr Energie benötigt oder werden mehr Schadstoffe produziert.
- Die Versicherungseinstufung von Fahrzeugen mit Kollisionsvermeidungssystemen sollte wegen der vermiedenen Kollisionen eigentlich günstiger werden. Wenn es aber doch zu Kollisionen kommt, ist der Schaden dann idR deutlich höher, weil die beschädigte Umfeld-Sensorik und Elektronik wesentlich teurer in der Reparatur ist, als es vorher bei einfachen Blechschäden der Fall war. Durch die Schadenskosten kann es dann zu einer höheren Versicherungseinstufung führen, weil in der Risiko-Schätzung (Risiko = Eintrittswahrscheinlichkeit mal Kosten) zwar die Eintrittswahrscheinlichkeit reduziert wurde, die Kosten diese Verbesserung aber überkompensieren.
- Einkäufer von Engineering- und Software-Dienstleistung drücken derart den Stundensatz, dass der Dienstleister dadurch nur noch weniger qualifizierte Mitarbeiter einsetzen kann, was im Endeffekt zu deutlich höheren Kosten und Risiken im Gesamt-Projekt führt, weil diese nicht über ausreichend Erfahrung und/oder Qualifikation verfügen, um komplexe Projekte und Entwicklungen effektiv zu bewerkstelligen. Insbesondere bei Software-Entwicklung ist die Leistungsfähigkeit und Qualifikation nicht linear und gleichförmig verteilt, sodass es hier zu exponentiellen Rebound-Effekten in Abhängigkeit von der Komplexität der Aufgabe kommen kann.
- Generell können unter bestimmten Umständen vordergründige Effizienzverbesserungen zu Verlusten von Effektivität führen, welche bei gesamtheitlicher Betrachtung zu einer spürbaren Verschlechterung führen.
Ursachen für Rebound-Effekte
Die Hauptursachen für Rebound-Effekte sind folgende:
- Bei komplexen Systemen werden wesentliche Einflussfaktoren und/oder Effekte in der Entwicklung von Lösungsmaßnahmen übersehen oder falsch eingeschätzt, sodass diese im realen Betrieb die angestrebten Effekte der verwendeten Lösung überlagern und/oder überkompensieren.
- Bei der Entwicklung eines komplexen Systems werden vereinfachte Annahmen über Randbedingungen oder Betriebslasten getroffen, welche nicht validiert wurden oder sich im Nachhinein als falsch erweisen.
- Die Systemgrenzen wurden während der Entwicklung zu eng gefasst, sodass übergeordnete Einflussfaktoren im tatsächlichen Betrieb des System(-of-Systems) nicht berücksichtigt sind.
Sehr oft hängen derartige Ursachen mit "Human Factors" beim interaktiven Verhalten im System-Umfeld und/oder mit System-Nutzern zusammen, wobei die Reaktion von Menschen im und auf das System unzureichend berücksichtigt oder falsch eingeschätzt wurden.
Abhilfe-Maßnahmen
Die Angst vor Rebound-Effekten soll einen aber nicht hindern komplexe Probleme anzugehen und innovative Technologien zur Lösung der Probleme zu entwickeln. Zur Vermeidung bzw. Minderung von Rebound-Effekten stehen eine Reihe von Abhilfe-Maßnahmen zur Verfügung.
- Die erste wesentliche Maßnahme ist ein vernetztes System-Denken und systematisches Vorgehen in der Entwicklung, bei welchem idealerweise ein ausreichend breites Spektrum von multidisziplinären Experten und Spezialisten in der System-Entwicklung involviert werden. Neben Ingenieuren sollten je nach Anwendungsfall so etwa auch Psychologen, Empiriker, Human-Machine-Interface- bzw. Usability-Experten und ähnliche KnowHow-Träger sowie die praktischen Nutzer in die Entwicklung mit einbezogen werden, um möglichst alle System-Effekte zu identifizieren und zu berücksichtigen.
- Der Einsatz von Digitalen Zwillinge und Simulationsmodellen in Kombination mit Szenario-Management erlaubt die Untersuchung und Identifikation eines breiten Spektrums von Einflussfaktoren und Systemzusammenhängen, sodass im Betrieb weniger Überraschungen zu erwarten sind. In den Kombination mit daten-basierten Entwicklungsansätzen kann damit entsprechendes System-KnowHow schnell aufgebaut, erfasst und validiert werden.
- "Human-Factors" können in der Regel nur empirisch erfasst werden. Daten-basierte Entwicklung mit systematischer Anbindung an reale Testumgebungen bzw. Testfelder für die Validierung im Realbetrieb sind eine Maßnahme, um sich ändernde Interaktions- und Verhaltensmuster zu erfassen und daraus realistische Modelle für die Entwicklung abzuleiten.
- Idealerweise wird der Daten-basierte Ansatz nicht nur im Test unter Realbedingungen sondern auch im Betrieb mit vernetzten Funktionen fortgesetzt. Rebound-Effekte können nämlich auch schleichend und erst nach längeren Zeitdauern einsetzen.
- Wenn der Test und Betriebseinsatz mit einer automatisierten Anomalie-, Störungs- und Änderungserkennung begleitet wird, können einsetzende Rebound-Effekte frühzeitig identifiziert werden, um rechtzeitig mögliche Gegenmaßnahmen einzuleiten.
- Sowohl Entwicklung als auch Betrieb sollten laufend mit einer Effektivitätsbewertung begleitet werden.
- Damit man in Systemen auch die Freiheitsgrade hat auf Rebound-Effekte zu reagieren, sollten diese nach Möglichkeit mit Adaptionsfähigkeiten und ausreichender Flexibilität ausgestattet werden.
- Da diese Maßnahmen teilweise a-priori nach höheren Entwicklungsaufwendungen aussehen (welche idR aber weit geringer sind als die Kosten und Risiken der Rebound-Effekte) ist eine realistische Einschätzung der Komplexität der Aufgabenstellung und darauf aufbauender Auswahl der Maßnahmen von hoher Bedeutung. Bei Bottom-up-Entwicklungen (bei welchen bestehende, einfache Lösungen immer weiter ausgebaut werden) ist die Gefahr größer, dass sich die Rebound-Effekte schleichend einstellen und irgendwann einmal zu einem totalen "Complexity-Lock" führen, als bei einem Top-Down-Vorgehen, bei welchem alle denkbaren Einflussgrößen und Effekte bereits im Basis-Konzept berücksichtigt sind und im realen Betrieb noch deaktiviert bleiben.
Zuletzt aktualisiert am 2022-02-20 von Andreas Kuhn.
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